Die Hundeesser von Svinia

Gauß, Karl-Markus, 2004
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Medienart Buch
ISBN 978-3-552-05292-5
Verfasser Gauß, Karl-Markus Wikipedia
Systematik GE.G - 1914 - 21. Jahrhundert
Interessenskreis Geschichte
Verlag Zsolnay
Ort Wien
Jahr 2004
Umfang 114 S.
Altersbeschränkung keine
Sprache deutsch
Verfasserangabe Karl-Markus Gauß
Annotation Auch die Hölle hat ihre Ordnung und ihre Gesetze. (GS) Etwa 300 Siedlungsgebiete, Wohnviertel und Ghettos für Roma gibt es in der Slowakei, die meisten davon im Osten des Landes. In mehreren Reisen hat Karl-Markus Gauß solche Siedlungen besucht: am Rand von Städten, in Landgebieten, in aufgelassenen Industrierevieren. In seinem neuesten Buch 'Die Hundeesser von Svinia“ führt er uns an die Orte und die dort lebenden Menschen heran. In der Nähe von Košice, wenige Kilometer vom Stadtzentrum entfernt, liegt Lunik IX, die größte Roma-Siedlung Europas. In Plattenbauten der 70er Jahre leben hier Tausende Menschen - genau weiß das niemand - und außer den Bewohnern und vereinzelten Sozialarbeitern käme auch kein Mensch auf die Idee, diese Siedlung zu besuchen. Das Ghetto funktioniert - auch ohne äußere Schranken. 'Das Wesen eines Ghettos ist seine Unsichtbarkeit“. So heißt es auf Seite 22. Es handelt sich hierbei nicht um eine theoretische Erkenntnis, sondern gleichermaßen um den literarischen Bauplan dieses Bandes: Es geht um das langsame Hervorholen dieser Siedlungen aus der Unsichtbarkeit. "Als ich von Lunik IX schon genug gesehen zu haben glaubte, lud ich Marie Poirot in ein Restaurant zum Abendessen ein, um mich von ihr zu verabschieden." (Hundeesser, 33) Marie Poirot, das ist eine Französin, die im Rahmen eines Sozialprojekts seit drei Jahren damit beschäftigt ist, die Wohn- und Lebensbedingungen der Roma zu erforschen, um daraus Modelle für die Zukunft zu entwickeln. Ein wenig Vergil, ein wenig Beatrice führt sie den Dichter tiefer in das ‘Inferno’ hinein und erklärt ihm die inneren Gesetze von Lunik IX. Sie erzählt von einigen wenigen Millionären unter den Roma, die von den unterträglichen Zuständen profitieren und diese stabilisieren. Erzählt von den drei großen Sozialschichten, auf deren unterster Leiter die Degesi, die 'Hundeesser“ stehen - Paria, die quasi als Unberührbare gelten und mit deren Kindern niemand spielt. Sehen und erkennen und verstehen sind bisweilen langsame Prozesse. Das Buch bildet solche Prozesse ab. Da sind es die konkreten Begegnungen mit den Roma, mit ihren Fürsprechern, mit ihren Gegner. Da ist es der Blick in die politische Geschichte und die Sozialgeschichte. Da sind viele widersprüchliche Erfahrungen: Kinder, die ohne Schuhe in einer Welt von Dreck und Gestank herumlaufen. Auf geheimnisvolle Weise sauber gehaltene Wohnungen inmitten der Slums. Menschen innerhalb und außerhalb der Ghettos, die sich auf Kosten der Ärmsten bereichern. Selbstlose Einzelgänger mit neuen sozialen Ideen. Grandios gescheiterte Großprojekte. Erstaunlich funktionierende Sozialprogramme. Wer so nahe an die Wirklichkeit herangeht, ist vor einfachen Antworten und simplen Lösungsansätzen gefeit. Viele Probleme scheinen sich in Zukunft noch zu verschärfen, manches scheint dem Abgrund zuzusteuern. Dazwischen aber immer wieder Bilder der Hoffnung auf eine neue und andere Zukunft. Auf Kinder, die sich die Bildung aneignen, um aus dem Teufelskreis ausbrechen zu können. Auf Gruppen, die den lähmenden Fatalismus überwinden und das eigene Leben wieder selber zu gestalten beginnen. Um die Ausbreitung einer besserwisserischen Moral zu verhindern, nimmt Gauß auch das eigene Arsenal an Vorurteilen mit in die Überlegungen herein. Wer eingesteht, dass ihn bereits der laufende Motor des wartenden Capriofahrers vor seiner Wohnung stört, macht sich nicht so leicht zum Richter über die Vorbehalte, die in der Slowakei gegenüber den Roma vorherrschen. Am Ende des Buches, ist man auch ein wenig dort gewesen, in Lunik IX und den anderen Siedlungen. Was Marie Poirot für den Autor, das ist sein Buch für uns: ein Vertrautmachen und ein Heranführen an ein Leben, das sich so ganz von dem unseren unterscheidet, und ein ansatzweiser Versuch, die Welt aus den Augen dieser Menschen zu sehen. Hat Dickens seine Anstrengungen darauf gesetzt, Oliver Twist aus dem Elendsquartieren herauszuholen, so hat uns Gauß in einer literarischen Gegenbewegung ein wenig an diese Quartiere herangeführt. *bn* Reinhard Ehgartner